Warum entstehen chronische Schmerzen?
Chronische Schmerzen betreffen Millionen von Menschen weltweit und stellen eine erhebliche Belastung für die Betroffenen dar. Doch wie entstehen sie, und warum verschwinden sie nicht wie akute Schmerzen nach einer gewissen Zeit? Die Antwort liegt in einem komplexen Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren.
Von akut zu chronisch: Wenn der Schmerz bleibt
Akute Schmerzen dienen als Warnsignal des Körpers bei Verletzungen oder Erkrankungen. Normalerweise klingen sie ab, sobald die Ursache behoben ist. Chronische Schmerzen hingegen persistieren über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten und verlieren ihre Schutzfunktion. Sie können auch ohne erkennbare Ursache bestehen bleiben und entwickeln sich zu einer eigenständigen Erkrankung.
Veränderungen im Nervensystem
Ein zentraler Mechanismus bei der Entstehung chronischer Schmerzen ist die sogenannte zentrale Sensibilisierung. Dabei kommt es zu einer erhöhten Erregbarkeit von Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn (zentralen Nervensystem), was zu einer verstärkten Schmerzempfindung führt. Selbst harmlose Reize können dann als schmerzhaft empfunden werden. Auch periphere Nerven können betroffen sein. Durch Entzündungen oder Verletzungen werden Schmerzrezeptoren, sogenannte Nozizeptoren, sensibilisiert. Man kann sich das ganze wie eine Alarmanlage von einem Haus vorstellen. Im Normalfall gibt diese nur ein Alarmsignal ab, wenn ein Einbrecher ins Haus rein möchte. Doch wenn die Alarmanlage nun sensibilisiert ist, dann reagiert diese bereits mit einem Alarmsignal, wenn nur eine Mücke vorbeifliegt. So ähnlich funktioniert auch unser Schmerzsystem. Es reagiert mit Schmerzreizen bereits bei eigentlich «harmlosen» Auslösern wie z.B. einer Berührung oder einem angespannten Muskel.
Das Schmerzgedächtnis
Chronische Schmerzen entstehen nicht nur durch körperliche Ursachen – auch das Nervensystem selbst kann lernen, Schmerz dauerhaft zu empfinden. Mediziner sprechen hier vom sogenannten Schmerzgedächtnis. Um das zu verstehen, hilft eine einfache Metapher:
Stellen Sie sich einen Waldweg vor. Jedes Mal, wenn Sie den gleichen Pfad betreten, wird der Boden fester, der Weg sichtbarer, und das Laufen wird einfacher. Je öfter Sie den Weg gehen, desto stärker prägt er sich in die Landschaft ein – selbst wenn Sie irgendwann gar keinen Grund mehr haben, genau dort entlangzugehen.
Genauso funktioniert das Schmerzgedächtnis: Wiederholte oder langanhaltende Schmerzreize «trampeln» regelrecht eine Spur im Nervensystem. Das Rückenmark und das Gehirn gewöhnen sich an diese Signale – die Nervenbahnen werden sensibler, und der Schmerz wird leichter und schneller weitergeleitet. Mit der Zeit reicht dann schon ein minimaler Reiz – oder gar kein Reiz mehr – und das Gehirn interpretiert ihn als Schmerz. Die ursprüngliche Verletzung ist vielleicht längst verheilt, aber das Nervensystem sendet weiterhin Schmerzsignale – wie ein Waldweg, der bleibt, auch wenn niemand mehr dort entlangläuft. Diese Veränderung betrifft nicht nur einzelne Nerven, sondern ganze Netzwerke im Gehirn, die mit Aufmerksamkeit, Emotionen und Erinnerungen zusammenhängen. Deshalb fühlen sich chronische Schmerzen oft intensiver, schwerer greifbar und belastender an als akute Schmerzen – sie sind mehr als nur ein körperliches Symptom.
Das Schmerzgedächtnis zeigt eindrücklich, wie stark Körper und Geist miteinander verbunden sind. Und es macht klar: Eine wirksame Schmerztherapie muss mehr tun, als nur Symptome zu lindern – sie muss auch dem Nervensystem helfen, den alten Pfad zu verlassen und neue Wege zu finden.
Psychosoziale Faktoren
Chronische Schmerzen entstehen nicht nur im Körper – sie werden auch durch unsere Gedanken, Gefühle und unser soziales Umfeld beeinflusst. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang vom biopsychosozialen Schmerzmodell. Dieses Modell geht davon aus, dass biologische Prozesse (z. B. Nervenreizungen), psychische Faktoren (z. B. Ängste oder depressive Verstimmungen) und soziale Einflüsse (z. B. Isolation oder Stress im Arbeitsumfeld) zusammenwirken und Schmerz verstärken oder aufrechterhalten können.
Forschungen zeigen: Menschen mit chronischen Schmerzen leiden überdurchschnittlich oft an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Diese Erkrankungen verändern die Schmerzwahrnehmung im Gehirn – Schmerz wird intensiver empfunden, länger gespeichert und schwerer reguliert. Gleichzeitig kann anhaltender Schmerz selbst psychische Symptome verstärken – ein Teufelskreis entsteht.
Auch soziale Umstände spielen eine zentrale Rolle. Wer sich unverstanden, überfordert oder ausgegrenzt fühlt, entwickelt häufiger chronische Schmerzen. Umgekehrt wirkt sich ein stabiles soziales Umfeld mit Empathie und Unterstützung oft schmerzlindernd aus. Das zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur den Körper, sondern auch die Lebensumstände eines Menschen in die Therapie einzubeziehen.
Die gute Nachricht: Psychosoziale Faktoren sind veränderbar. Mit gezielter psychologischer Begleitung, Achtsamkeit, Bewegung, sozialer Einbindung und einer bewussten Stressreduktion lassen sich chronische Schmerzen positiv beeinflussen.
Fazit
Die Entstehung chronischer Schmerzen ist ein komplexer Prozess, der weit über die ursprüngliche Verletzung hinausgeht. Ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen ist entscheidend für eine effektive Behandlung und Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen.

Literaturverzeichnis
Eich, W. e. (2022). Psychosoziale Faktoren bei Schmerz und Schmerzbehandlung. Schmerz, 159-167.
Göbel, H. (2017). Schmerzgedächtnis: Wie entsteht chronischer Schmerz? Von Schmerzklinik Kiel: https://schmerzklinik.de/was-ist-das-schmerzgedaechtnis-und-wie-entsteht-chronischer-schmerz/#iLightbox[gallery15450]/1 abgerufen
Sandkühler, J. (2001). Schmerzgedächtnis: Entstehung, Vermeidung und Lösung. Deutsches Ärzteblatt, 98.
Universitäts Klinikum Heidelberg. (2022). Wie chronischer Schmerz entsteht. Von https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/newsroom/wie-chronischer-schmerz-entsteht/ abgerufen