Chronische Schmerzen können lähmen – körperlich wie mental. Wer sich weniger bewegt, verliert nicht nur an Kraft, sondern auch an Lebensqualität. Doch es gibt eine Methode, die gezielt hilft, aus diesem Teufelskreis auszubrechen: Graded Activity. Statt auf Schmerzvermeidung zu setzen, geht es hier um einen strukturierten, individuell angepassten Aufbau von Aktivität – unabhängig von momentanen Schmerzempfindungen. In diesem Beitrag erfährst du, wie Graded Activity funktioniert, warum sie bei chronischen Schmerzen so wirksam ist und wie du sie selbst Schritt für Schritt umsetzen kannst.
Vorteile von Graded Activity bei chronischen Schmerzen
Graded Activity ist ein verhaltenstherapeutisch fundiertes Trainingskonzept, das Menschen mit chronischen Schmerzen hilft, ihre körperliche Aktivität schrittweise und unabhängig vom aktuellen Schmerzempfinden zu steigern. Die zentralen Vorteile sind:
- Förderung der körperlichen Funktion: Durch strukturierte, regelmässige Steigerungen verbessert sich die Belastbarkeit im Alltag.
- Reduktion von Angst und Vermeidungsverhalten: Patient:innen lernen, Bewegung nicht mehr als Bedrohung zu sehen, sondern als Schlüssel zur Selbstwirksamkeit.
- Langfristige Verbesserung der Lebensqualität: Die Methode zielt nicht primär auf Schmerzfreiheit, sondern auf mehr Autonomie und Teilhabe.
- Hohe Alltagstauglichkeit: Die Umsetzung ist einfach, individuell anpassbar und kann ohne spezielle Geräte erfolgen.
Wie geht man bei Graded Activity vor?
Graded Activity basiert auf einem festen Plan – nicht auf Schmerzempfinden. Das Ziel ist es, die körperliche Aktivität systematisch und unabhängig vom momentanen Schmerz zu steigern. So gehst du dabei vor:
- Wähle eine Aktivität, die dir wichtig ist und die du steigern möchtest (z. B. Gehen, Hausarbeit, Radfahren).
- Bestimme dein aktuelles Ausgangsniveau/ deine Baseline – wie lange oder wie oft kannst du die Aktivität im Moment ohne starke Erschöpfung und ohne Flair up ( eine übermassige Schmerzreaktion) durchführen?
- Erhöhe die Belastung wöchentlich in kleinen, festen Schritten – z. B. jede Woche 1 Minute mehr.
- Führe die Aktivität regelmässig durch, auch wenn Schmerzen auftreten (solange sie erträglich bleiben).
- Dokumentiere deinen Fortschritt, um deine Erfolge sichtbar zu machen.
- Bleibe konsequent – auch an „schlechteren Tagen“, solange die Aktivität machbar bleibt.
Wichtig ist: Halte deine geplante Aktivität konsequent durch – an guten wie an schlechten Tagen. Nur wenn du Schwankungen vermeidest und eine stabile Belastung aufrechterhältst, kannst du sie schrittweise steigern. Kontinuität ist der Schlüssel zum Fortschritt – nicht Schmerzfreiheit.

Wie berechnet man die Baseline?
Die Baseline ist der Ausgangspunkt, mit dem du deine Aktivität beginnst. Sie wird folgendermassen ermittelt:
- Mehrere Messungen der Aktivität (mindestens 5 Messungen):
Du misst über mehrere Tage hinweg (mindestens 5) die Dauer, wie lange du eine Aktivität (z.B. Spazierengehen) durchführen kannst, ohne dass es zu einem Flair-up (eine übermässige Schmerzreaktion) kommt. Achte dabei auf deine Schmerzempfindung während und nach der Aktivität.
Jetzt deine Basline berechnen! - Berechnung des Durchschnitts:
Nachdem du an verschiedenen Tagen die Dauer des Spaziergangs getestet hast, berechnest du den Durchschnitt der gemessenen Gehzeiten. Zum Beispiel, wenn du an fünf Tagen die Gehzeit als 5 Minuten, 7 Minuten, 6 Minuten, 6 Minuten und 8 Minuten empfunden hast, berechnest du den Durchschnitt dieser Werte. - 80% des Durchschnitts:
Um sicherzustellen, dass du deinen Körper nicht überlastest, nimmst du 80% des Durchschnitts als deine Baseline. Das bedeutet, dass du zu Beginn eine Gehzeit wählst, die ungefähr 80% der durchschnittlich möglichen Zeit beträgt, die du ohne Schmerzen gehen kannst. Dieser Wert gibt dir einen sicheren Startpunkt.
Beispiel: Spazierengehen
Angenommen, du hast an 5 Tagen folgende Gehzeiten gemessen: 5, 7, 6, 6 und 8 Minuten. Der Durchschnitt dieser Zeiten beträgt (5 + 7 + 6 + 6 + 8) / 5 = 6,4 Minuten. 80% davon ergibt 5,1 Minuten. Deine Baseline für den Start liegt also bei 5 Minuten.
Wie steigert man die Aktivität?
Der Schlüssel zu Graded Activity ist, die Aktivität kontinuierlich, aber vorsichtig zu steigern. Deine Zielsetzung ist es, die Dauer der Aktivität über mehrere Wochen hinweg in kleinen, kontrollierten Schritten zu erhöhen. Dabei sollte die Aktivität immer an schlechten und guten Tagen gleich durchgeführt werden. An guten Tagen steigst du nicht über die Baseline hinaus, und an schlechten Tagen reduzierst du sie nicht – es bleibt konstant, um eine stetige, aber langsame Verbesserung zu fördern.
- Schrittweise Steigerung:
Wenn deine Baseline bei 5 Minuten liegt, gehst du in der ersten Woche täglich 5 Minuten. In der zweiten Woche kannst du versuchen, die Gehzeit um 30 Sekunden bis 1 Minute zu steigern, also auf 5,5 Minuten oder 6 Minuten. Jede Steigerung sollte jedoch nur dann erfolgen, wenn der Schmerz kontrollierbar bleibt. - Rückkehr zur vorherigen Stufe bei Flair-ups:
Sollte es zu einem Flair-up kommen, das heisst, der Schmerz wird übermässig stark und beeinträchtigt deine Bewegungsfähigkeit, kehrst du zu der vorherigen Stufe zurück, in der der Schmerz noch beherrschbar war. Das bedeutet, dass du nicht weiterhin versuchst, mehr zu gehen, sondern wieder mit der Baseline beginnst, um den Körper zu entlasten und Überforderung zu vermeiden. - Kontinuität auch an schlechten Tagen:
Graded Activity funktioniert nur, wenn du an guten wie an schlechten Tagen die gleiche Aktivität beibehältst. Auch an einem schlechten Tag solltest du versuchen, die gleiche Zeit zu gehen, wie an einem guten Tag. Wenn du dich an schlechten Tagen weniger bewegst, könnte dies dazu führen, dass du in der nächsten Woche wieder eine geringere Baseline erreichst, was den Fortschritt verlangsamen würde. Der Punkt ist, dass du eine konstante, kleine Herausforderung für deinen Körper wählst.
Woche | Geplante Gehzeit pro Tag | Kommentar / Ziel |
Woche 1 | 5 Minuten | Startniveau / Basline – realistisch und gut durchführbar |
Woche 2 | 6 Minuten | Kleine, aber kontinuierliche Steigerung |
Woche 3 | 7 Minuten | Fokus auf Regelmässigkeit, nicht auf Schmerzfreiheit |
Woche 4 | 8 Minuten | Fortschritt sichtbar, Motivation steigt |
Woche 5 | 9 Minuten | Schmerzen dürfen auftreten, bestimmen aber nicht das Tempo |
Woche 6 | 10 Minuten | Ziel erreicht: konstante Steigerung über 6 Wochen |
Warum Graded Activity funktioniert
Graded Activity funktioniert, weil es dir ermöglicht, deinen Körper behutsam an mehr Bewegung zu gewöhnen, ohne ihn zu überlasten. Indem du langsam die Dauer der Aktivität steigerst, stärkst du sowohl körperliche Ausdauer als auch Muskelkraft, was langfristig zu einer Schmerzlinderung führt. Ausserdem verhindert die Methode, dass du zu schnell voranschreitest und dich überforderst, was zu Rückschlägen führen könnte.
Fazit
Bewegung ist kein Gegner, sondern ein Verbündeter bei chronischen Schmerzen. Mit einem sanften Einstieg und einem klaren Plan kannst du Vertrauen in deinen Körper zurückgewinnen und langfristig weniger Schmerzen verspüren.
Quellen:
- Vaegter H.B., et al. (2024) Physical activity should be the primary intervention for individuals living with chronic pain. the European Pain Federation (EFIC) ‘On the Move’ Task Force. DOI: 10.1002/ejp.2278
- Geneen, L. J., et al. (2017). Physical activity and exercise for chronic pain in adults: An overview of Cochrane Reviews. Cochrane Database of Systematic Reviews, 4. https://doi.org/10.1002/14651858.CD011279.pub3
- Schäfer A., et al. (2021) „On the Move“ – Prävention chronischer Schmerzen durch körperliche Aktivität und Bewegung. Der Schmerz, 35, S.14-20. https://doi.org/10.1007/s00482-020-00509-2
- Lopez-de-Uralde-Villanueva I., et al. (2016) A Systematic Review and Meta-Analysis on the Effectiveness of Graded Activity and Graded Exposure for Chronic Nonspecific Low Back Pain. Pain Medicine, 17. S.172-188. doi: 10.1111/pme.12882
- Tegner H. et al (2024) The Effect of Graded Activity and Pain Education After Lumbar Spinal Fusion on Sedentary Behavior 3 and 12 Months Postsurgery: A Randomized Controlled Trial. A randomized controlled trial. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation 2024; 105 : 1480-9