Die neue ICD‑11 bringt einen Durchbruch für Menschen mit chronischen Schmerzen: Der primäre chronische Schmerz wird erstmals als eigenständige Krankheit anerkannt. Was das bedeutet, warum es so wichtig ist – und welche Chancen sich daraus ergeben.
Was ist die ICD‑11 – und wofür brauchen wir sie?
Die ICD‑11Iinternational Classification of Diseases) ist die neue internationale Klassifikation von Krankheiten, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie ersetzt die bisherige ICD‑10, die über 30 Jahre in Gebrauch war. Jeder Arztbesuch, jede Diagnose – ob Rückenschmerzen, Diabetes oder Depression – wird weltweit mit einem ICD-Code erfasst, damit eine einheitliche medizinische Sprache gesprochen wird.
Ein grosser Fortschritt der ICD‑11 ist die neue Erfassung von chronischen Schmerzen: Sie werden erstmals als eigenständige Erkrankung anerkannt – insbesondere dann, wenn keine klare körperliche Ursache vorliegt. Damit wird sichtbar, was viele Betroffene seit Jahren erleben – und was bisher im System oft übersehen wurde. Ein wichtiger Schritt für mehr Anerkennung, bessere Behandlung und gezielte Forschung.
Was ist neu mit ICD‑11?
Mit der Einführung der ICD‑11, die seit dem 1. Januar 2022 international gilt, wird chronischer Schmerz erstmals als eigenständige Erkrankung offiziell anerkannt.
In der ICD‑11 gibt es ein eigenes Kapitel für chronische Schmerzen, das unter dem Code MG30 läuft. Dieses Kapitel unterteilt chronische Schmerzen in sieben Hauptkategorien, darunter z. B. chronische primäre Schmerzen (ohne klare körperliche Ursache), krebsbedingte Schmerzen, postoperative Schmerzen oder muskuloskelettale Schmerzen wie bei Arthrose oder Rückenschmerzen. Jede dieser Kategorien wird zusätzlich in Unterkategorien und spezifische Krankheitsbilder gegliedert, was eine deutlich präzisere Diagnose und Behandlung ermöglicht.
Aus Sicht der Swiss Pain Society ist das ein Meilenstein: Chronischer Schmerz wird nun nicht länger nur als Symptom gesehen, sondern als eigenständige Krankheit – sichtbar, dokumentierbar und endlich ernst genommen. Das verbessert nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch die Anerkennung in Gesellschaft, Forschung und Gesundheitssystem.
Exkurs Definition: MG30.0 Chronische primäre Schmerzen
Chronische primäre Schmerzen sind chronische Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die durch erheblichen emotionalen Stress (Angst, Ärger/Frustration oder depressive Stimmung) oder funktionelle Behinderung (Beeinträchtigung bei Aktivitäten des täglichen Lebens und reduzierte Teilnahme an sozialen Rollen) gekennzeichnet sind. Chronische primäre Schmerzen sind multifaktoriell: biologische, psychologische und soziale Faktoren tragen zum Schmerzsyndrom bei. Die Diagnose ist unabhängig von identifizierten biologischen oder psychologischen Faktoren angemessen, es sei denn, eine andere Diagnose würde die vorliegenden Symptome besser erklären.
Was genau chronische Schmerzen sind, erläutern wir ausführlich in unserem Beitrag «Verständnis für chronische Schmerzen«.

Warum ist das wichtig?
Die Einführung der ICD‑11 bringt einen entscheidenden Wandel im Umgang mit chronischen Schmerzen – insbesondere mit dem sogenannten primären chronischen Schmerz. Das bedeutet: Wenn Schmerzen bestehen, ohne dass eine eindeutige körperliche Ursache gefunden wird, gelten sie nicht länger nur als Symptom, sondern als eigenständige Diagnose. Das schafft Klarheit – für Betroffene, für Ärzt:innen und auch für Versicherungen.
Diese neue Einordnung verbessert die Sichtbarkeit von chronischem Schmerz erheblich. In der Vergangenheit waren viele Schmerzpatient:innen in der Statistik gar nicht richtig erfasst. Ohne klare Diagnose fehlte oft der Zugang zu wirksamen Therapien, und auch die Forschung konnte nur eingeschränkt relevante Daten sammeln. Mit der ICD‑11 ändert sich das: Die neue Codierung ermöglicht es, multimodale Schmerzbehandlungen (z. B. medizinische, physiotherapeutische und psychologische Ansätze) gezielter zu planen, zu dokumentieren und auch besser finanziell abzusichern.
Ein weiterer Vorteil liegt in der Versorgungsplanung: Durch die einheitliche internationale Codierung werden nun verlässliche Daten erhoben, wie viele Menschen tatsächlich unter chronischen Schmerzen leiden, in welchen Formen und mit welchen Auswirkungen. Das hilft den Gesundheitssystemen, Ressourcen gezielter zu verteilen, bedarfsgerechte Angebote zu schaffen und Forschungsschwerpunkte dort zu setzen, wo sie wirklich gebraucht werden. So profitieren letztlich nicht nur die Betroffenen – sondern auch das gesamte Versorgungssystem.

Was bedeutet die Diagnose „primärer chronischer Schmerz“ im Alltag?
- Für Betroffene:
Man erhält erstmals offiziell eine anerkannte Diagnose.
Das ist nicht „alles nur im Kopf“ – sondern ein eigenständiges Krankheitsbild, das ernst genommen. - Wichtiges Vorgehen danach:
- Abklärung: Ausschluss von organischen Ursachen.
- Multimodale Therapie: Kombination aus Ärzten, Physiotherapie, Schmerzpsychologie, Ergotherapie etc.
- Individuelles Schmerzmanagement: Schmerzjournal, Entspannungsverfahren, Bewegungstherapie, psychosoziale Unterstützung
- Dokumentation und Nachverfolgung: Durch MG30.0‑Kodierung kann der Verlauf lückenlos festgehalten und weitergeleitet werden, z. B. für Versicherungen und Kostenträger.
- Für Ärzt:innen und Fachpersonen:
Viele Landessysteme starten ICD‑11 schrittweise, z. B. Deutschland/Schweiz ab 2025+
Kliniken, Hausärzte und Schmerzfachzentren erhalten künftig strukturierte Instrumente zur Kodierung und Therapieplanung.
Fazit
Die neue ICD‑11 bringt eine historische Veränderung für Menschen mit chronischen Schmerzen: Sie werden erstmals als Patient:innen mit einer eigenständigen Krankheit gesehen – nicht mehr als „Symptommassnahmen“. Das schafft Wertschätzung, besseren Therapiezugang und mehr Forschung. Die Diagnose „primärer chronischer Schmerz“ (MG30.0) ist ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung und strukturierter Versorgung.
Literaturverzeichnis
Barke, A., Korwisi, B., Nilges, P., Rief, W., & Treede, R.-D. (2023). Alles anders? Chronische Schmerzen sind in der ICD-11 keine psychische Störung mehr! Psychotherapeutenjournal, 4-12.
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Korwisi, B. (2025). Introduction to the ICD-11 chronic pain classification. https://cdn.who.int/media/docs/default-source/classification/cat-webinars/unlocking-the-potential-of-icd-11-for-chronic-pain/introduction-to-the-icd-11-chronic-pain-classification.pdf?sfvrsn=559119b5_1&utm: IASP.
Rolf-Detlef, T. (2011). ICD-11: Was ist neu für die Schmerzmedizin. Von universimed: https://www.universimed.com/at/article/neurologie/icd-11-was-neu-schmerzmedizin-106286?utm abgerufen
Swiss Pain Society. (2025). ICD-11. Von Swiss Pain Society: https://swisspainsociety.ch/de/aktuelles/icd-11/ abgerufen


